Samstag, 24. Juni 2017

Judge Roy Bean

Urteilsenthaltung

Bei Carrère spricht ein Richter von sich und seiner Kollegin als von großen Richtern, der Autor fragt sich, was gemeint sein könnte. Bei den kreativen Berufen wie Dichter, Maler, Musiker gibt es relativ verläßliche Maßstäbe für die Bemessung von Größe, aber bei Richtern? Den Gestalten des Buches der Richter, Debora etwa, könnte man Größe zusprechen, aber damals waren die Beschreibungen des richterlichen Berufsbildes noch ganz anders als heute. Auch die salomonische Urteilsfindung paßt kaum noch in die moderne Rechtspraxis. Mancher mag kurz an den legendären Judge Roy Bean denken, ein entschiedener Vertreter der Rough Justice, man wünscht ihn sich nicht an das örtliche Amtsgericht. Frederick Farrar hatte auf Wunsch seines Vaters in Cambridge und London Rechtswissenschaft studiert und in der Folge, wie er gelegentlich mit einem gewissen Entsetzen sagte, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht. Die Art, wie er auf sein Berufsleben zurückblickt, läßt, wenn es denn einen Bemessungsmaßstab gäbe, nicht auf einen großen Richter schließen, andererseits aber ist einzuräumen, daß Distanz der Rechtsfindung im Grunde förderlich ist. Et puis, fügt Carrère hinzu, il y a la phrase de l’Évangile: Ne jugez pas. Da ist er wohl nicht mit dem nötigen Ernst bei der Sache, denn wer wollte bezweifeln, daß ein funktionierendes Rechtssystem Voraussetzung jeder darüberhinausgehenden privaten Urteilsenthaltung ist.

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