Sonntag, 1. Oktober 2017

Voyou

Petite Saison

Die einen beginnen spät, Fontane etwa oder Sebald, andere sind Frühstarter. Unter denen wiederum werden besonders die geliebt, die nicht lange ausgehalten haben, Novalis, Rimbaud. Benjamin Fondane (ursprünglich Fundoianu, eigentlich Benjamin Wechsler) nennt sein Buch Rimbaud le voyou und bezieht sich dabei auf einen Wörterbucheintrag: Voyou, Individu de mœurs crapuleuses qui vit ordinairement dans la rue. An anderer Stelle heißt es: Voyou se dit de l'homme qui a tous les vices du peuple sans en avoir les qualités. Schon bei dieser Definition entfällt der Gedanke an lachende Vagabunden und ähnliches, umso mehr und restlos dann bei Fondane, der in Rimbaud einen Bruder Stawrogins sieht, zwei verunglückte, zwei heillose Heilige, auf verbrecherischer Suche nach einem wahren Leben, das es nicht gibt. Sie gehen den Weg nicht gemeinsam, la véritable révolte ne peut être qu’individuelle, ne fût-ce qu’en deux personnes, il faut bien de conventions, accords, raisonnements.

Man wird sagen, für Sebald war es zu spät für solche Experimente, als er anfing, Prosa zu schreiben, und doch ist einzuräumen, die erste Begegnung mit dem Erzähler, Selysses, ist die Begegnung mit einem Voyou, mit jemandem, der auf der Straße lebt. Rastlos ist er in den Straßen Wiens unterwegs. Die ebenso endlosen wie leeren Gängen führten über ein eher enges Areal nicht hinaus, einen genau umrissenen, sichel- bis halbmondförmigen Bereich, dessen äußerste Spitzen in der Venediger Au hinter dem Praterstern beziehungsweise bei den großen Spitälern des Alsergrunds lagen. Hätte man die Wege, nachgezeichnet, es wäre der Eindruck entstanden, es habe jemand hier auf einer vorgegebenen Fläche immer neue Traversen und Winkelzüge versucht, um aufs neue stets am Rand seiner Vernunft, Vorstellungs- und Willenskraft anzugelangen und zum Umkehren gezwungen zu werden. Deutliche Spuren der Verwahrlosung sind nicht zu übersehen, er begann in einer aus England mitgebrachten Plastiktüte allerlei unnütze Dinge mit sich herumzuführen, die ihm immer unentbehrlicher wurden. Der Anblick des inwendig schon gänzlich in Fetzen aufgelösten Schuhwerks entsetzt ihn, es würgt ihm im Hals und die Augen trüben sich. Une petite saison en enfer, und wieder müssen wir fragen, was wäre geworden, hätte er diese Phase nicht überwunden. Freunde der Koinzidenz werden nicht übersehen, daß Selysses, als er die Bühne betritt, ungefähr das Alter des sterbenden Rimbaud hatte.

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