Sonntag, 4. Februar 2018

Puzzle

Letzte Menschen

Wäre das Wohnzimmer der Eltern nicht so detailliert beschrieben, könnte man meinen, der Erzähler wäre als Vollwaise in der Obhut des Großvaters aufgewachsen. Direkte Erwähnungen der Eltern sind selten und unauffällig, leicht zu überlesen, der Vater läßt sich eine Schachtel Zuban aus der Gastwirtschaft holen, die Mutter hat auf dem Herdschiffchen den Milchkaffee warmgehalten für den Großvater, der das verabscheute Getränk aber heimlich in den Ausguß entleert. Der Großvater verdeckt die Mutter geradezu. Mit Sicherheit hat der Erzähler keine Geschwister und anscheinend hatte er auch keine Spiel- oder Schulkameraden. Nachweislich besucht er die Schule des grauenhaften Hauptlehrers König, recht bei sich ist er aber erst, als er wegen einer Diphterieerkrankung für längere Zeit vom Unterricht ausgeschlossen ist. Er erhält Privatstunden vom Fräulein Rauch, die er auch gleich heiraten will, wegen ihrer Anmut und Sanftmütigkeit aber auch, um der Schule und der Kindheit dauerhaft zu entkommen. – Das ist in groben Umrissen die Situation, wollte man sich allein auf Ritorno in patria verlassen.

In der Erzählung Adelwarth zeigt sich, daß aus dem Heiratsplan nichts geworden ist und die Schullaufbahn mit der gewohnten Lustlosigkeit fortgesetzt wurde. Aufgrund einer momentanen Amerikabegeisterung malte er sich in den endlosen Schulstunden seine eigene amerikanische Zukunft in allen Einzelheiten und Farben aus, streckenweise zu Pferd, streckenweise in einem dunkelbraunen Oldsmobile durchquerte er die Vereinigten Staaten in allen Himmelsrichtungen. Greifbare Folgen haben diese Phantasien so wenig wie zuvor die Liaison mit dem Lehrerfräulein. Wir lernen, einigermaßen überrascht, in der gleichen Erzählung den Erzähler als Mitglied einer stattlichen Sippe kennen, an die sechzig Personen sind zu einem Familientreffen versammelt, er offenbar das einzige Kind. Die Mutter hört auf den Namen Rosa, erfahren wir bei der Gelegenheit. Vom Vater hören wir näheres in den Moments Musicaux, am Sonntag stellt er im Radio schon früh die Rottachtaler an mit ihren Hackbrettern und Zupfgeigen. Dieses Merkmal regt den Erzähler nicht zu einer weitergehenden, detaillierten Zeichnung des Vaters an. Als der Erzähler im zweiundzwanzigsten Lebensjahr in Manchester eintrifft, um fürs erste dort zu bleiben, hat er die Familie sowohl als auch mögliche Jugendfreunde abgeschüttelt. Auf seinen Gängen durch die so gut wie ausgestorbene große Stadt traf er, wenn die Nacht sich herabsenkte, an verschiedenen Stellen auf Feuerchen, um die als unstete Schattenfiguren Kinder herumstanden und -sprangen, letzte Menschen. Im September 1970 begibt er sich, inzwischen verheiratet, auf Wohnungssuche in der Umgebung der ostenglischen Stadt Norwich. Seine Frau Clara begegnet uns noch einige Male, das Ehepaar beibt kinderlos.

Menschen ohne Kinder erinnern sich vielleicht gern an ihre Kindheit, weniger gern an ihre damaligen Altersgenossen. Es gibt Ausnahmen, so hält Austerlitz die Freundschaft mit Gerald Fitzpatrick aufrecht bis zu dessen Tod, der Erzähler erinnert sich gern an den lernträgen Schüler und späteren Meisterkoch Fritz, mit dem er in der Klasse des Lehrers Bereyter die Bank geteilt hat. Austerlitz entdeckt erst spät seine Kindheit in Prag, die der Kindheit in Wales vorausgegangen war. Hinweise, es habe in Prag und der Tschechei außer ihm noch ein weiteres Kind gegeben, sucht man vergebens.

Keine Kommentare: